Die Informationsflut vor hundert Jahren: Was wir heute vom Mundaneum lernen können

Die Informationsflut vor hundert Jahren: Was wir heute vom Mundaneum lernen können

Der Umgang mit vielen Informationen und einer ständig wachsende Wissensmenge ist  kein Problem der letzten Jahre oder Jahrzehnte, sondern beschäftigt Menschen bereits seit dem 18. Jahrhundert. Die Bewältigungsstrategie war allerdings vor 200 Jahren eine gänzlich andere, man versuchte damals mit ausgeklügelten Systematiken der Informationsflut Herr zu werden. Was können wir heute von diesen Bemühungen lernen, welche Strategien sind auch heute noch anwendbar?

Informationsflut oder Datenflut ist ein Begriff, der erst in den letzten Jahren, vor allem mit der Entwicklung des Internets relevant erscheint. Viele Menschen fühlen sich belastet von den vielen Informationen, die sie jeden Tag verarbeiten müssen oder dürfen und wünschen sich manchmal weniger täglichen Input. So neu ist das Problem der vielen Informationen noch nicht, wenn es sich auch sicher mit dem Aufkommen des Internets eine neue Dimension gewonnen hat. Bereits mit Aufkommen des Buchdrucks und der industriellen Produktion vieler Bücher taucht das Problem auf, das neue Wissen auch zu klassifizieren und zu bewältigen. Bereits Gottfried Wilhelm Leibniz, der große Mathematiker und Philosoph des 17. Jahrhunderts, beklagte die zunehmende Menge an Wissen und Büchern und befürchtete, die Informationsflut werde wieder zu einem Zeitalter der Barbarei führen (Zum ersten Mal in der Geschichte prägen die Massen die Überlieferung, Interview mit James Gleick).

Das analoge Internet: Der Zettelkasten des Forschers

In der Wissenschaft spielt die Verarbeitung vieler Informationen eine große Rolle und es gab bereits vor der Digitalisierung Techniken, um mit der Vielzahl an Informationen und Wissen zurecht zu kommen. Die bekannteste Strategie, um Informationen zu organisieren und der Datenflut zu begegnen ist die Verschlagwortung, entweder in Bibliotheken oder als Privatperson mit einem Zettelkasten. Sehr bekannt ist der Zettelkasten von Niklas Luhmann Luhmann, der ein System für die Verschlagwortung von Informationen entwickelte und zu einem großen Zettelkasten entwickelte. Das ist etwas untertrieben, der “Kasten” von Luhmann bestand eigentlich aus 24 Kästen mit 90.000 eng beschrieben Zetteln. Luhmann verwendete keine Karteikarten, sondern normales Papier, in einem Kasten drängten sich also viele eng beschrieben Zettel (Der Spiegel: Der Gral von Bielefeld). Das erstaunliche an Luhmanns Zettelkasten ist das interne Verweissystem. Er verwendete Signaturen, um seine Idee oder das Gelesene mit anderen Themenbereichen zu vernetzen, dadurch erreicht er eine hohe Vernetzung verschiedene Ideen.

Ganz ähnlich sah der Versuch von Paul Otlet aus, das Wissen seiner Zeit zu organisieren. Otlet war Bibliothekar und ein Begründer der Informationswissenschaften und lebte von 1868 bis 1944. Sein großes Projekt, das er nicht vollenden konnte, war das sogenannte Mundaneum, in dem das Wissen der Welt vereint werden sollte.

Titel: Mundus_Mundaneum_(maquette) / Quelle: Wikimedia CC0 Public Domain

Titel: Mundus_Mundaneum_(maquette) / Quelle: Wikimedia CC0 Public Domain

Die Idee des Mundaneums war es, das Wissen der Welt in Zettelkästen zu katalogisieren und zur Verfügung zu stellen. Das Projekt musste wegen des Ersten Weltkriegs unterbrochen werden und wurde dann nicht beendet. Auch Otlet machte sich Gedanken über die Klassifikation von Wissen, für das Mundaneum entwickelte er eine Systematik, mit der alle Wissensbereich in einem Dezimalsystem erfasst wurden. Die classification décimale universelle (CDU) ist ein System, mit dem alle Wissensbereiche in Dezimalstellen abgebildet werden konnten. Da System beginnt mit 0 (Allgemeines), 1 (Philosophie/Psychologie) und geht dann bis 9 (Geographie, Biographien). Innerhalb dieser großen Kategorien lassen sich mit dem Notationssystem verschiedene Unterthemen vollständig erfassen.

Vom Zettelkasten zum Hyperlink

Diese ganzen Systeme zur Organisation von Informationen kommen einem heute natürlich bekannt vor und wirken etwas sperrig in unserer heutigen Wissensgesellschaft. Verschlagwortung und interne Vernetzung sind aber natürlich auch Kennzeichen des Hypertextes und des Internets. Das liegt daran, dass in der Entwicklung des Internets und von Computernetzwerke natürlich auch Ideen Wissensorgansion eingeflossen sind. Das bekannteste Beispiel ist sicher der Hyperlink und die Idee des vernetzen Textes, diese geht (unter anderem) auf Ideen des Philosophen und Computerpioniers Ted Nelson zurück. Dieser prägte 1965, also weit vor dem heutigen Internet, den Begriff Hypertext. Er stellte sich  Texte vor, die aufeinander verweisen, interessanterweise lange bevor es so etwas wie HTML gab, seine Vision wurde dann ab 1992 durch HTML umgesetzt.

Was ist aber der große Unterschied zwischen Verlinkungen und Verschlagwortung im Internet und die Ideen einer universellen Wissensorgansiation, wie sie Otlet vertrat? Der entscheidende Unterschied ist sicher die Anarchie des Netzes im Gegensatz der überlegten und organisierten Struktur des Mundaneums oder eines Zettelkastens. Verweise und Links im Internet werden in der Regel ohne bibliographische oder systematische Hintergedanken gesetzt. Das ist sicher eine der Gründe für die demokratische Nutzung des Internets durch viele verschiedene Personen, allerdings bedeutet das auch, dass Informationen im Internet häufig nicht denselben Grad an Struktur haben, wie Informationen und Wissen innerhalb eines Zettelkastens oder eine Bibliothek. Es sind zwar viele Verweise da, aber das Wissen im Internet hat nicht mehr unbedingt die Struktur des Wissens in einem Bibliothekskatalog, in dem die Bezüge und Verbindungen nach einem System dargestellt werden.

Digitale Wissensorganisation

Das hat Charme und viel Dynamik, führt aber dazu, dass wir uns heute stärker im Wissen selbst organisieren müssen. Was im Internet gut funktioniert ist die Suche, wir können mit den richtigen Schlagwörtern binnen Sekunden viele Informationen finden, aber das Internet bietet zu wenig Struktur als Wissen- und Informationsspeicher. Anders gesagt: Das Internet ist großartig dafür, Informationen zu finden, aber sicher kein guter Ort, um Informationen zu speichern.

Wie kann eine gute Wissensorgansiation heute aussehen? Die Möglichkeiten eines Zettelkastens sind sicher für viele heute zu umständlich, es gibt allerdings Programme ein virtueller Zettelkasten (Synapsen Zettelkasten). Ich habe selbst mit virtuellen Zettelkästen gearbeitet, vor allem in meiner Dissertation um die vielen Informationen zu organisieren. Weitere Möglichkeiten sind OneNote oder Evernote. Beides sind Programme, mit denen man Einfälle, Ideen und Webseiten speichern und mit Schlagworten versehen werden können. Vor allem die Speicherung und Verschlagwortung von Internetinhalten finde ich bei beiden Programmen sehr praktisch. Ich kann die Inhalte durchsuchen, habe aber mit meinen Schlagworten eine eigene Struktur, die mir mein Wissen systematisch und geordnet darstellt. Wir können also von der Wissensorganisation zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus lernen, wie wichtig es ist, Wissen mit Schlagworten zu organisieren. Das Internet ist ein großartiger Ort, um Informationen zu verbreiten, wenn aus diesen wirkliches Wissen werden soll, oder eine Datenbank wichtiger Erkenntnisse, ist es nach wie vor sinnvoll, mit Schlagworten die Menge der Informationen zu organisieren.