Wie Achtsamkeit zum großen Ding wurde

Wie Achtsamkeit zum großen Ding wurde

Achtsamkeit und Meditation haben eine steile Karriere im Westen hinter sich. Aus einer esoterischen Beschäftigung für Aussteiger ist Achtsamkeit inzwischen eine Bewusstseinstechnik für gestresste Berufstätige geworden – gerade im IT-Bereich. Neben der Reduktion von Stress ist Achtsamkeit die Antwort auf eine sich schnell wandelnde, digitale Welt.

Die Entwicklung von Meditation und Achtsamkeit in den den letzten Jahren erscheint auf den ersten Blick seltsam. Meditation und Achtsamkeit war doch etwas für Hippies, für Aussteiger und kein Thema für Berufstätige. Ich ernte immer noch manchmal schräge Blicke, wenn ich Meditation als wichtige Technik für das Selbstmanagement beschreibe. Vor allem für eine ältere Generation haben Achtsamkeit und Meditation bis heute einen starken Einschlag von Gegenkultur aus den 60er Jahren. Das hat schlicht mit der Geschichte von Meditation im Westen zu tun.

Wie Meditation in den Westen kam

Achtsamkeit und Meditation sind im Westen in mehreren Wellen angekommen. Für Deutschland kann man sagen, dass die erste Auseinandersetzung über östliche Spiritualität stattfand und eher philosophischer Natur war. Schopenhauer war einer der erster frühen Asien Begeisterten im Westen, der sich für indische Philosophie interessierte. Ähnliches lässt sich für Hesse sagen; auch Hesses Begeisterung für fernöstliche Philosophie fand in erster Linie theoretisch oder ästhetisch statt. Es wurden also im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem die fernöstliche Philosophie rezipiert und als Gegenentwurf zu den gängigen westliche Vorstellungen dargestellt.

Das ändert sich in den 60er und 70er Jahren. Die Beatnik und Hippie Bewegung setzte auf unmittelbare Erfahrungen und Subjektivität. Dadurch rückt auch beim der Rezeption des Buddhismus und fernöstliche Lehren im Westen stärker die tatsächliche Praxis in den Vordergrund. Diese Entwicklung geschah parallel in den USA und in Europa. Durch eine erste Welle des Zen-Buddhismus und später anderer buddhistischer Strömungen kommt der Westen das erste Mal im größeren Ausmaß mit Meditationstechniken in Kontakt. Zen Mind Beginners Mind schildert die zeitgenössische Adaption buddhistischer Meditationstechniken an der Westküste der USA. Auch in (West-)Deutschland findet in den 70er Jahren die ersten Retreats statt.

Seit also fast 40 Jahren gibt es Meditation im Westen. Während die ersten Meditierenden im Westen ein starkes spirituelles Interesse hatten und aus der alternativen Gegenkultur kamen, gibt es heute andere Motive für ein Interesse an Meditation. In den letzten Jahren gibt es ein verstärktes Interesse von stressgeplagten Berufstätigen an Meditation. Das Thema ist nicht Erleuchtung oder Befreiung vom Kapitalismus, sondern ganz schlicht Stressreduktion und mehr Konzentration.

Stressreduktion statt Erleuchtung

Gerade im Silicon Valley und in der IT-Branche ist Meditation inzwischen ein großes Ding. Neuer Meditationslehrer oder Entwickler von Meditations-Apps kommen häufig aus der Wissenschaft und Technik. Andy Puddicombe, der Entwickler von Headspace und Rohan Gunnatilake haben im IT-Sektor gearbeitet. In größeren Konzernen ist inzwischen Meditation ein Angebot für die Stressreduktion geworden. Google hat inzwischen einen Chief Happiness Officer und auch große deutsche Konzerne bieten inzwischen Meditationsschulungen für ihre Mitarbeiter an.

Diese Veränderung im Interesse an Meditation hat zum einen mit den neuen säkularisierten Meditationsprogrammen zu tun. John Kabbat-Zinn hat mit seinem Mindful Based Stress Reduction Programm Ende der 70er Jahre den Weg für säkulare Meditation geebnete. In diesem Programm wird Meditation als eine geistige Technik verstanden und psychologisch eingeführt. Durch diese Angebote wird Meditation zugänglicher für Menschen, die wenig mit Spiritualität anfangen können.

Neben MBSR spielt auch die Erforschung von Meditation eine weitere Rolle für die Säkularisierung fernöstlicher Geistestechniken. Meditation ist nicht nur geeignet, Stress zu verringern, sondern bietet auch viele weitere Vorteile. Zu diesem Thema sind inzwischen viele Studien erschienen und es gibt auch neurowissenschaftliche Erkenntnisse zur Wirksamkeit von Meditation. So hat Sara Lazar in Untersuchungen nachweisen können, dass Meditation das Gehirn positiv verändert.

Achtsamkeit und Digitalisierung

Ein interessantes Ergebnis dieser Studien lautet: Meditation verbessert nicht nur die Stressregulierung, sondern auch nachweislich die Leistungsfähigkeit. Meditieren hat auch positive Auswirkungen auf die graue Substanz im Gehirn. Stärkere Konzentrationsfähigkeit und bessere Entscheidungen sind also auch Folgen einer regelmäßigen Meditationspraxis.



Gerade diese Wirkungen machen Meditation interessant für Berufstätige. Mehr Leistungsfähigkeit und mehr graue Substanz helfen bei der Konzentration, in Lernprozessen und bei der Gestaltung der Digitalisierung! Der digitale Wandel bedeutet nämlich nicht einfach nur eine Abbildung von analogen in digitale Prozesse. Digitaler Wandel fordert auch neues Denken und neue Strukturen. Damit ist die Digitalisierung viel stärker auch ein kultureller Wandel und aus diesem Grund ist die Analogie mit der industriellen Revolution zutreffend. Es geht eben nicht nur darum, ein paar neue Programme zu beherrschen, sondern darum, vernetzt zu arbeiten. Digitalisierung bedeutet auch, sich flexibel in neuen Teams einzufinden. Es geht bei der Digitalisierung auch um neues Lernen und um die schnelle Umsetzung neuer Informationen.

Neben Stressreduktion bildet Achtsamkeit auch wichtige Fähigkeiten aus, um den kulturellen Wandel, der durch die Digitalisierung ausgelöst wird zu bewältigen. Ein wesentliches Element buddhistischer Meditationspraxis ist die Entwicklung neuer Sichtweisen. Die klassische buddhistische Meditationspraxis soll die Praktizierenden dazu bringen, Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten zu überwinden. Zum Beispiel ist die Erkenntnis und Wahrnehmung von Unbeständigkeit ein wichtiges Element des Buddhismus, das zu einer spirituellen Befreiung führen soll. Meditation soll dabei helfen, sich von Vorstellungen eines festen und essenziellen Ichs zu lösen und die damit verbundenen Gewohnheiten aufzugeben. Psychologen würde das als Reframing bezeichnen. Und diese Fähigkeit ist auch zentral, wenn Sie neues lernen und wenn Sie sich auf neue Prozesse einstellen. Achtsamkeit ist also weit mehr als nur eine Technik zur Stressreduktion, sondern hilft dabei, den digitalen Wandel zu meistern.